In den zehn Jahren Krieg hat die syrische Zivilbevölkerung extreme Gewalt erlebt und keine der am Konflikt beteiligten Kräfte – weder die syrische Regierung und ihre Verbündeten, noch der "Islamische Staat" (IS) und auch nicht die von den USA geführte internationale Koalition – nehmen Rücksicht auf sie.
Anfang 2013 werden in der Provinz Idlib weitere Camps eingerichtet. Immer mehr Menschen, die vor den Luftangriffen und Kämpfen fliehen, brauchen eine Unterkunft. Unsere Teams sind zu diesem Zeitpunkt immer noch in Atmeh und behandeln Patient*innen mit schweren Brandverletzungen, die die Folgen von Bomben oder minderwertigem Brennstoff sind, der in den beengten Camps genutzt wird.
Über das Jahr verteilt spenden wir einem Verbund aus 40 Krankenhäusern und 60 Kliniken in sieben syrischen Provinzen täglich durchschnittlich drei Tonnen Hilfsgüter und Ausrüstung. Die von der Regierung kontrollierten Gebiete erhalten fast die gesamte internationale Hilfe, während aufständisch kontrollierte Gebiete sich selbst überlassen bleiben. Das Ungleichgewicht ist eklatant. Die dort lebenden Menschen leiden unter Nahrungsmittelknappheit, Wasser- und Stromausfällen. Das Gesundheitssystem kollabiert, wie in Ost-Ghuta am Rand der Hauptstadt Damaskus.
Ein Jahr nach Ausbruch der Kämpfe rund um Damaskus im Jahr 2012 sind die Aufständischen in mehreren Städten – Duma, Ghuta, Daraya und Yarmuk - eingekesselt. Am 21. August 2013 startet die syrische Regierung Luftangriffe und es kommt mutmaßlich zu Angriffen mit Chemiewaffen auf Ghuta. Im Laufe des Vormittags, in weniger als drei Stunden, werden in drei der von uns unterstützten Krankenhäuser 3.600 Patient*innen behandelt, deren Verletzungen auf den Einsatz eines giftigen Kampfstoffes hinweisen. 355 von ihnen sterben. Schätzungen über die Gesamtzahl der Todesopfer reichen von 300 bis 2.000.
Und es bleibt nicht der einzige Angriff dieser Art. Am 16. März 2015 werfen Hubschrauber mehrere Fässer mit Erstickungsgas in der Nähe der von der Opposition gehaltenen Stadt Sarmin in Idlib ab. Wir unterstützen zu der Zeit ein Krankenhaus in der Stadt und nach Angaben unserer syrischen Kolleg*innen vor Ort deuten die Symptome der Patient*innen auf Chlor hin. Sechs Menschen sterben, 70 werden vergiftet. Im April 2017 stellen wir bei acht Menschen, die während des Angriffs auf Khan Sheikhun ins Krankenhaus Bab Al Hawa gebracht werden, erneut Symptome fest, die auf Kontakt mit Nervenkampfstoffen wie Sarin-Gas hindeuten (verkleinerte Pupillen, Muskelkrämpfe und unkontrollierter Stuhlgang).
Imads Geschichte
Als das syrische Regime im 21. August 2013 die Menschen in Ghuta mutmaßlich mit Chemiewaffen angriff, war Imad Youssef zunächst davon ausgegangen, dass es sich um einen fehlgeschlagenen Luftangriff handelte. Es waren keine Explosionen zu hören. Dann allerdings hörte er die Menschen auf der Straße schreien: "Chemischer Angriff!". In dieser Nacht, so erzählt er, sind mehr als 1.500 Menschen gestorben.
Während die syrische Regierung in der Westhälfte Syriens mit unerbittlicher Härte vorgeht, herrscht im Osten des Landes, seit der Eroberung von Rakka im März 2013, der Islamische Staat, der bis dahin auf den Irak beschränkt war.
Wir sichern uns Schutzgarantien vom IS zu, um in Qabassin in der Provinz Aleppo, weiterhin Menschen behandeln zu können. Doch wir merken bald, dass die Sicherheit unserer Mitarbeiter*innen nicht gewährleistet werden kann. Im Januar 2014, nach der Entführung von fünf Mitarbeiter*innen durch die Terrorgruppe, verlassen die internationalen Teams die Region. Medizinische Hilfe wird nun über die Nachbarländer organisiert.
Khalafs Geschichte
Khalaf Al-Mulla (40) war Sportlehrer in Rakka. In den frühen Morgenstunden des 22. September 2014, als schwarz gekleidete Männer kamen, um ihn zu verhaften, floh er barfuß und im Schlafanzug aus seinem Haus. Er entkam den Männern des IS und floh über Umwege nach Idlib.
Im Juni behandeln unsere Teams im Krankenhaus von Kobane/Ain al Arab - zweieinhalb Autostunden nördlich von Rakka - 64 Patient*innen. Die meisten kommen aus den zerbombten Vororten der Stadt. Ein Großteil von ihnen ist auf der Flucht durch Landminen verwundet worden. Doch es sind auffällig wenige Patient*innen.
Das Verhältnis zwischen der Gewalt auf das umzingelte Gebiet und den wenigen Verwundeten ist schief. Nur kleine Gruppen von Zivilist*innen schaffen es nach draußen. 30.000 bis 50.000 Menschen befinden sich noch in der Stadt. Von der internationalen, von den USA geführten Koalition in die Enge getrieben, benutzen die Kämpfer des IS die Bewohner als menschliche Schutzschilde.
Die Koalition bombardiert die Stadt ohne zwischen Kämpfer*innen und Zivilist*innen zu unterscheiden und ohne eine vorherige Evakuierung zu planen. Eine Untersuchung von Amnesty International und Airwars bestätigt später: Mehr als 1.600 Menschen starben in Rakka während der Offensive durch die Bomben der Koalition.
Täglich erleben die Menschen willkürliche Hinrichtungen durch den IS und ziellose Bombardements der Koalition. Viele der Überlebenden werden als IS-Unterstützer*innen betrachtet und werden auf unbestimmte Zeit ohne Prozess inhaftiert.
Fatimas Geschichte
Während der Islamische Staat in Rakka herrschte erlebten Fatima Ali und ihre Familie schreckliche Zeiten. Der IS verfolgte die Menschen, besetzte ihre Häuser und nahm Zivilisten als menschliche Schutzschilde gegen die kontinuierlichen Luftangriffe der internationalen Koalition. Schlussendlich gelang es Fatima mit ihrer Familie zu fliehen.